Märchen
lösen Lebenskrisen
Tiefenpsychologische Zugänge zur Märchenwelt
"Aus zwei Wurzeln entsteht bei den
Menschen der Begriff der Gottheit: aus den Erscheinungen
der Seele und denen des Himmels." Heraklit (550
- 480 v. Chr.)
Von Göttlichem und Menschlichem
Einer babylonischen Erzählung zufolge
ist der menschliche Zustand der Sterblichkeit einem
Missverständnis unter Göttern zu verdanken:
Der Gott des Wassers hat einen Sohn, der viele göttliche
Eigenschaften geerbt hat, aber sterblich ist. Eines
Tages ereignet sich eine Szene, die den Göttern
vor Augen führt, wie unhaltbar dieser Zustand ist:
Der weise, doch sterbliche Halbgott, der beim Fischen
den Windgott ärgerlich verflucht, bricht ihm damit
die Flügel - so stark ist sein Fluch. Der Frevler
wird vor die Götter geladen. Sein Vater warnt ihn
davor, die ihm angebotenen Speisen anzurühren -
es könnte die Speise des Todes sein. Aber es war
die Speise des Lebens gewesen, die ihn zu ihresgleichen
hätte machen sollen und so bleibt er für immer
das Zwitterwesen, ein Drittes zwischen Tierheit und
Gottheit: ein Mensch. Und als solches vor allem auf
eines angewiesen: auf Orientierung. "Für die
Götter", sagt Heraklit, "ist alles schön
und gut und gerecht; die Menschen aber haben das eine
für unrecht, das andere für recht angenommen."
(Fragment 102) - "unrecht" meint dabei auch
alles Üble und Hässliche.
Die Menschen können sich aber nur orientieren,
indem sie vergleichen. Ihnen ist die Dimension des Mehr
oder Weniger zugedacht, der Bereich des Komparativen.
Das Alles oder Nichts bleibt den Göttern vorbehalten.
Wir müssen uns mit dem Relativen begnügen.
Aber damit gewinnen wir auch etwas: das Mehrdeutige.
Das Geheimnis. Rätsel.
Natürlich - das Rätsel ist der Mensch. Die
mythische Sphinx gibt es auf. "Was ist das"
will sie in Theben wissen, "das morgens auf vier
Beinen, mittags auf zweien und am Abend auf drei Beinen
geht?" Ödipus weiß als einziger die
Antwort, befreit die Stadt von dem menschenverschlingenden
Ungeheuer, gewinnt Königsthron und Königin.
Mit des Rätsels Lösung scheinen alle Probleme
gelöst. Was aber Ödipus, der Kluge mit dem
Schwellfuß, nicht weiß - dieser die scheinbare
Lösung ist die eigentliche Frage. Das Spiel des
Entdeckens hat eine dialektische Dynanik und kommt zu
keinem Ende.
Was ist der Mensch? - Ödipus ist ausersehen, dieses
Rätsel exemplarisch vorzuleben.
Die alten Griechen als die großen Denker des Paradoxen
wussten von der Doppelgesichtigkeit des Seins, die Orientierung
so schwer macht. Ödipus weiß und weiß
nicht. Er löst das Rätsel der Sphinx, wird
(ohne es zu wissen) seine eigene Mutter heiraten und
schließlich feststellen müssen "der
Mörder, den ich suche, bin ich selbst". Denn
er hat seinen eigenen Vater zu Tode gebracht. Das Ausmaß
an Schuld, das er, ohne es zu wissen, also unbewusst,
auf sich geladen hat, wird unerträglich, er blendet
sich, zieht als Bettler in die Ferne. Ödipus ist
jener Held, den seine Traumata (oder sein Schicksal)
zwingen, schuldig zu werden - ein Menschenschicksal.
Aber genau deshalb ist er eben auch die zentrale psychoanalytische
Figur, die ins Leben gesetzte Frage: "Wer bin ich?"
Mythen sind Erzählungen deuten, indem
sie erzählen. Diese Erzählungen offenbaren
eine Ordnung der Welt, einen kosmischen Zusammenhang.
Zunehmend rückt dabei der Mensch ins Zentrum dieses
Zusammenhangs, bis er im Märchen (Verkleinerungsform
v. Märe, d.h. Geschichte aus alter Zeit). zur Hauptfigur
wird. Aber auch die Gestalten des Märchens gehören
der überindividuellen Sphäre an. Sie stellen
keine echten Personen dar, sondern sind Figuren, Helden.
In Mythos und Märchen geht es immer um Aktion.
Das Geschehen definiert die Handlungsträger, macht
sie zu dem, wofür sie stehen. (Aus dem Einleitungskapitel zu Märchen
lösen Lebenskrisen. Tiefenpsychologische Zugänge
zur Märchenwelt. Herder-Verlag, 3. Auflage) |